Stehen – Morphing – Schweben // Christina Maria Pfeifer

Luise Unger „vertieft sich in die Luft“1, wie sich andere Menschen in eine Sache vertiefen. Kein Wunder, dass ihre Arbeiten etwas Schwebendes kennzeichnet. Auf den ersten Blick wirken die Skulpturen der letzten zehn Jahre wie Gebilde, die sich in silbergraue Gewebe verpuppt haben. Im Prozess ihres Werdens halten sie inne und verweilen einen Moment; Ruhe geht von ihnen aus. Sie scheinen sinnlich weich und luftig zart, man möchte sie behutsam berühren wie empfindsame Geschöpfe. Doch die Puppenruhe ist flüchtig und nur ein „Phänomen des Übergangs“. Bei längerer Betrachtung folgt das Auge der inneren Bewegung der Skulpturen. Mehrere Schichten von körperlosen Hüllen sind mit- und ineinander verwoben und deuten wie in einem Prozess des Morphings mögliche Formen an. Der Blick scheint ins Innere eines Organismus zu fallen und auf den Mikrokosmos des Zellwachstums gelenkt. Biomorphe Formen drängen zueinander wie Zellen vor dem Moment der Zeugung, Grenzen verschwimmen und vergehen, neue entstehen durch Ablösung und Vereinzelung (z.B. Spin, Heliko). Bei anderen Arbeiten sind es die Schichten anthropomorpher Hüllen, deren fließende Formen die Menschwerdung berühren (z.B. Schattenkörper, Träumer, Cor). Unger spricht von der „winzigen Ahnung und wagen Erinnerung an die eigene Zeugung, ohne es erklären zu können“.

Dass die innere Bewegung der Skulpturen überhaupt sichtbar wird, liegt an der Eigenart ihrer Oberfläche. Sie dient „als Hinweis für das Verborgene“. Das silbergraue Gewebe, das eben noch weich und verletzlich anmutete, besteht aus hartem und zähem Edelstahldraht. Eindrücke und Eigenschaften, die sich nur scheinbar widersprechen? Mit lockeren Maschen stellt Unger das Gewebe in aufwendiger Häkeltechnik und ohne Nahtstellen selbst her. Es ist hochgradig durchlässig für Licht, Luft und Sicht, und bei direktem Sonneneinfall nimmt es sich bis ins Schemenhafte zurück. Ihre Beschaffenheit lässt die Oberfläche wie zu einem spirituellen Filter und Vermittler für das werden, was in der Luft liegt.

Ihre Durchlässigkeit macht die Anhäufung der Schichten von Hüllen wahrnehmbar, die zur visuellen Instabilität von optischen Reizen führt.2 Dem Auge bleibt keine andere Wahl, als sich zwischen äußerer Hülle und inneren Formen vor- und zurück zu tasten, als gelte es einen Kern zu erforschen. Dieses wechselseitige Durchdringen von außen und innen mag das ausdrücken, was Unger „die Sehnsucht, etwas Unergründliches fassen zu können“ nennt. Bei manchen Skulpturen tanzen zudem Farbschimären auf der Oberfläche, die sich durch Hitzeeinwirkung auf dem Drahtgewebe bilden. Der Edelstahl verliert an materieller Strenge und die Gewebe muten wie Seifenblasen an, die wider Erwarten nicht platzen (z.B. Agalma, Panta Rhei, Ephemer).

Das Spielerische und Assoziative in Ungers Arbeiten drängt sich nicht in den Vordergrund, es ist diskret und gibt sich wohl am deutlichsten durch die Wahl der Namen preis: Unkulunkulum, Hornicht, Atavaka, Dunkler und Dunklin, Galiola, HumptyDumpty… Man muss diese Titel aussprechen, um ihre lautmalerische Poesie ganz zu erfassen. Vielleicht verbirgt sich in ihnen sogar ein koboldhafter Witz im Umgang mit Elementarem? Der Klang der Sprache jedenfalls scheint die innere Bewegung der Skulpturen phonetisch nachzuempfinden.

Bevor sich Luise Unger als Ausgangspunkt für nichts mehr als einen dünnen Edelstahldraht entschied, setzte sie einen Mix von Materialen ein: Holz, Baumwolle, Hanf, Wachs, verschiedene Metalle. In jener älteren Schaffens- phase findet das Stahldrahtgewebe nur in wenigen Arbeiten Verwendung (Dauern, Undula, Flügel), dann immer als industriell gefertigtes Gitter. Das Verbindende der Skulpturen aus jener Phase liegt in ihrer schwarzen Farbe. Es sind Körper in geometrischen Formen, deren Silhouetten sich klar und bestimmt abgrenzen. Im Innern bestehen sie aus Hohlräumen, von außen zeigen sie eine Oberfläche, die sich wie glatte feuchte Haut über rätselhafte Unebenheiten spannt. Mit den Skulpturen treten einem tiefschwarze Schatten gegenüber, die wie aus dem Gedächtnis einer fremden Zeit oder alten Epoche stammen (z.B. 12 Türme, Die Säumerin). In ihrer Dunkelheit ziehen die Skulpturen alles Licht auf sich und so von Energie aufgeladen schweben sie, wenn auch nur äußerst geringfügig. Doch undurchlässig wie die Oberfläche ist, kann sich in ihnen die Energie kaum produktiv entfalten. Es wird eine bedrückende Verkapselung und der schmerzhafte „Übergang von Kontinuierlichem zu Diskontinuierlichem“ spürbar. Nur die Fäden und Bänder, die sich aus einigen der Skulpturen lösen und baumelnd über dem Boden spielen, wirken, als hielten sie die Erinnerung an das Kontinuierliche und Ganze wach.

Wie erwähnt entstehen während der Phase von Ungers schwarzen Skulpturen auch drei Arbeiten aus Drahtgewebe. Prominent ist die erste Arbeit Dauern, die von 1987 und damit aus der Zeit an der Akademie stammt. Hier besitzt das Drahtgewebe ein äußerst feines Gitter, durch das sporadisch Aschestaub dringt. Unger hat das Gewebe zu 25 gleichgroßen Röhren geformt, die sich an der Oberfläche durch Unregelmäßigkeiten transformieren und individuell variieren. Im darauffolgenden Jahr beginnt sie mit Undula und in dieser Skulptur deutet das Drahtgewebe eine Wellenbewegung an, die sich über 21 Variationen von oben nach unten zu verflachen scheint. Durch beide Arbeiten ziehen sich durchgehende Schnüre, die den seriellen Charakter der Skulpturen betonen und daneben eine schwebende Hängung ermöglichen. Der Gedanke der Serie setzt sich in den jüngeren Arbeiten aus gehäkeltem Drahtgewebe weiter fort (u.a. Ja und Nein): Unger scheint in diesen Skulpturen die Variationen eines potentiell unendlichen Morphings zu praktizieren, denen biologische (Ur-)Formen, wie es beispielsweise Zellen sind, unterzogen werden können.

Die serielle Technik tritt noch deutlicher hervor, betrachtet man die Arbeiten aus Stahldrahtgeflecht der letzten 20 Jahre als eine Werkreihe. Darin scheint sich in Ungers künstlerischer Methode eine Strategie der Variationen anzukündigen. Über die Jahre verzichtet sie mehr und mehr auf die Wahl einer wahren Form für ihre Skulpturen. Stattdessen verlegt sie sich auf immer neue Variationen bio- und anthropomorpher Formen. Unger wechselt also von der Selektions- auf die Kombinationsachse.3 Sie schöpft dabei aus einem virtuellen Archiv von möglichen Formen, das als der eigentliche Ort ihrer künstlerischem Subjektivität gelten kann. Dass ihr virtuelles Archiv ausgerechnet bio- und anthropomorphe Formen enthält, überrascht nicht. Unger wuchs auf einem Bauernhof auf und ist mit den Abläufen entstehenden und natürlichen Lebens von Kindesbeinen an vertraut. Unmissverständlich zeigt sich durch dieses Archiv auch die ethische Dimension ihrer Auffassung und der Variationen in ihren Arbeiten. 

Allerdings begegnet ein heutiger Betrachter dem Morphing in ihren Skulpturen nicht, ohne die massenhaft verbreitete Oberfläche unserer Kommunikationskultur zu kennen. Gemeint ist die Bildschirmoberfläche (display, screep), auf der Bildschirmschoner ein programmiertes Morphing geometrischer und biologischer Formen vollziehen. Quell- und Zielbild der sich transformierenden Formen sind auch bei Ungers Variationen nicht mehr identifizierbar. Doch anders als beim elektronisch animierten Morphing findet das ihrer Skulpturen im realen dreidimensionalen Raum sowie in stehender Zeit statt, d.h. allein evoziert durch optische Reize, die sich im Gehirn vollziehen. Im Rahmen unserer Kommunikationskultur massenhaft morphender Bildschirmschoner ist Ungers künstlerische Methode also von beunruhigender Zeitgenossenschaft: Ihre Variationen bio- und anthropomorpher Formen schweben stillstehend im Raum, während sie unser Gehirn dazu animieren, sie zu transformieren.

1  Zitate, deren Quelle nicht näher bestimmt ist, stammen aus Aufzeichnungen und Gesprächen mit Luise Unger
2  Pöppel, Ernst (2006): Kunstausflug; in: Der Rahmen, Ein Blick des Gehirns auf unser selbst; München, Wien. S. 183-213
3  Groys, Boris (2008): Auf der Suche nach der stehenden Zeit; in: Die Kunst des Denkens; Hamburg. S. 130-149