Lippische Gesellschaft für Kunst e.V., 21. Mai – 18. Juni 2017
Schwarze Schatten, körperlose Silhouetten, die still verharren oder sich in einem Luftzug ganz leise bewegen – Traumgebilde. Nicht, dass den Formen etwas Unentschiedenes anhaften würde. Ihr Aufbau ist so komplex wie präzise, die Perfektion in der Durchführung beeindruckend. Und dennoch haben sie diese ephemere Aura. Ihre Transparenz und schwebende Leichtigkeit gibt ihnen den Anschein einer flüchtigen Existenz, die kaum zu fassen ist. Auch bei näherem Betrachten werden ihre Konturen nicht schärfer: Der Blick bleibt an diesen glitzernden Gebilden nicht haften. Ihre Oberflächen lösen sich auf, je näher man ihnen zu Leibe rückt.
Es sind weniger Körper als fließende Formen der Transformation, die in diesen Arbeiten sichtbar werden. „Panta rhei“ – „alles fließt“ nennt Luise Unger eine ihrer Arbeiten aus dem Jahr 2005, die man zur Gruppe der zellularen Formen zählen könnte: Sie erinnert entfernt an eine Eizelle im Begriff ihrer Teilung. Ungers Arbeiten nehmen uns mit in eine Welt des stetigen Wandels, des Wachsens und Vergehens. Urformen, aus dem geheimnisvollen Weben der Natur gewonnen, um für das Aufblitzen eines künstlerischen Moments bildnerische Gestalt anzunehmen. Und wie lassen sich solche der Natur nachempfundenen Formen besser fassen als in einer Technik, die sich selbst der Nachahmung der Natur verdankt?
Luise Unger hat nach Jahren des Experimentierens mit flexiblen und leicht formbaren Stoffen die Häkeltechnik für sich entdeckt. Sie greift mit der textilen Technik auf eine der ältesten Kulturformen überhaupt zurück. Die textilen Techniken transformieren die in der lebendigen Natur selbst angelegten Verfahren in Kulturtechniken: Es sind Formen des Zusammenfügens und Verbindens durch Knoten, Schlaufen, Maschen und Verflechtungen, wie sie in der gestaltenden Natur zuerst auftraten. Man denke dabei an die „textilen“ und gleichzeitig „baulichen“ Formen der Spinnennetze, der Kokons, der Nester, der Dämme oder der Bauten von Insektenvölkern. Insofern lässt sich für die textilen Techniken eine Universalität ableiten, die bis in die Urgeschichte der Kunstformen aus der Zeit der Entstehung von Kultur überhaupt zurückführt. Sie gehören zu den Bausteinen des zivilisatorischen Lebens und dienen ebenfalls der Architektur als Modell. Zur Eigenart der Technik gehört das jeweils gewählte Material. Der metallische Edelstahldraht steht in einem gewissen Gegensatz zu den traditionellen textilen Materialien pflanzlichen oder tierischen Ursprungs. Er bringt seine eigenen Gesetzlichkeiten ein: seine hohe Flexibilität und Stabilität bei minimaler Masse, seine kühle Glätte, seinen verführerischen Glanz. Er erlaubt die Herstellung eines ebenso komplexen wie luftigen, nahtlosen Gewebes in nahezu jeder, auch plastisch gerundeten Form. Unger erzeugt mit diesem Material weniger geschlossene Flächen als netzartige Strukturen, eher in die Luft gemalte Umschreibungen von Körpern als feste Körperbildungen.
Diese Skulpturen missachten die Gesetze der Statik: sie hängen von der Decke oder an der Wand und würden ohne diesen Halt in sich zusammenfallen. Sie bilden ein Dazwischen, zwischen Form und Nicht-Form. Ihre Entstehung entwickelt sich im Wesentlichen aus der Linie. Wie sich die Linie in der Zweidimensionalität zur Zeichnung verdichtet, so formt sich hier Masche zu Masche zu einer raumgreifenden dreidimensionalen Textur. Die Verwandtschaft der manuellen, gleichförmig fließenden Bewegung des Häkelns mit dem Schreiben ist offensichtlich und findet in den Papierarbeiten eine weitere Entsprechung. Sowohl der Begriff „Textur“ als auch „Text“ stammen vom lateinischen „textere“ ab, das nicht nur „weben“ und „flechten“, sondern auch allgemeiner „zusammenfügen“, „verfertigen“ oder „abfassen“ bedeutet. Diese2 metaphorischen Ableitungen sind kulturgeschichtlich während der Herausbildung der Schrift entstanden.
Solche Zusammenhänge sind keineswegs zu vernachlässigen bei einem Werk, in dem Sprache als zusätzliches Gestaltungsmittel einen hohen Stellenwert einnimmt. Ungers Titelfindungen gehen weit über den Rang einer locker assoziativen Zutat hinaus und können ohne jeden Zweifel als kongeniale literarische Leistung betrachtet werden. Dabei spielt es keine Rolle, ob sie zu lautmalerischen Erfindungen wie „Hornicht“, „Heliko“ oder „Hubba“ greift oder sich in Titeln wie „Die Säumerin“, „Nexus“ oder „Malina“ an konkreten oder literarisch konnotierten Begriffen orientiert. Die Poesie der Titel liefert einen Subtext, der das Erzählerische in diesem Werk hervorhebt.
Luise Unger ist eine Weberin oder Spinnerin, die ihren Faden aus dem Bodensatz archaischer Erfahrungen spinnt und daraus ihre mythische Erzählung formt. Masche reiht sich an Masche und lässt allmählich Gebilde heranwachsen, die ihre Herkunft aus den Tiefen des Unbewussten verraten. Sie gründen in schwer zugänglichen Bereichen, in denen die Verwurzelung des Menschen in der Natur noch Bestand hat. Die Einheit von Mensch und Natur gehört zur fundamentalen Erfahrung des Mensch-Seins. Daran knüpfen diese skulpturalen Boten aus einer fernen Welt an. An ihnen kann sich eine vage Erinnerung an unsere letztlich unauslöschbare Verbindung mit der Natur entzünden, von der wir trotz aller Entfremdung immer ein Teil sein werden.
Gerade auch die Langsamkeit, mit der diese Gebilde naturgemäß entstehen, ermöglicht es der Künstlerin, unmittelbar aus der eigenen Intuition zu schöpfen. Es ist tatsächlich ein Schöpfungsprozess, der es erlaubt, der inneren Vorstellung auf subtilste Weise nachzugehen, und der an einen Wachstumsprozess erinnert. Es geht nicht um Fleißarbeit, sondern darum, einen Zustand der Durchlässigkeit zu erreichen, der durch die Gleichförmigkeit der Handlung wie bei einer meditativen Übung gefördert wird. Luise Unger sagt, dass die Formen von weit her, wie aus einer anderen Zeit oder einer anderen Welt zu ihr kommen. Sie stellt sich insofern in die Tradition des Künstlers als Medium: Man denke beispielsweise an Jackson Pollock, der bei seinen Drippings ebenfalls darauf insistierte, als Künstler ganz zurückzutreten und dem Bild lediglich zu seinem eigenen Ausdruck zu verhelfen. Dennoch verband sich im abstrakten Expressionismus mit dem expressiven Gestus gleichzeitig ein lustvolles Ausleben des genialischen Künstler-Subjekts. Ungers Häkeltechnik wird dagegen eher durch ein retardierendes Element bestimmt, das sogar einen gewissen Automatismus aufweist. Spannung entsteht hier nicht durch körperliche Expressivität, sondern durch konzentrierte, in sich gekehrte Intensität und Feinfühligkeit. Äußerste Selbstbeherrschung ist Voraussetzung für dieses hohe Ziel einer solchen Perfektion der Form mit ihren fein austarierten Proportionen und dem differenzierten, oft mehrschichtigen Aufbau. Das Künstler-Ego tritt hinter dem Werk völlig zurück.
Neben der stupenden Komplexität vieler ihrer Werke kommt bei anderen eine Sehnsucht nach vollkommener Einfachheit zum Tragen. Bei „Umhüllung“ oder „Nexus“ ist es gerade die Großzügigkeit und Schlichtheit der Geste, die einen Eindruck zeitloser Schönheit hervorruft. Ein wesentlicher Bestandteil all dieser Skulpturen ist die Luft: Diesem Element verdanken sie ihre transluzide Eleganz, mit der sie kaum fassbar vor unseren Augen schweben, wie nur für einen Moment erscheinend oder schon wieder verschwindend. Luft ist das belebende Element, das den Dingen durch seine Bewegung den Atem des Lebens einhaucht, jedoch ebenso durch Flüchtigkeit gekennzeichnet ist und weder gesehen noch festgehalten werden kann. Der leise spürbare, vorbestreichende Hauch ist auch bei Titeln wie „Hornicht“, „Heliko“ oder „Hubba“ durch den Anfangsbuchstaben H geradezu körperlich anwesend.
Ebenso lebenswichtig und dabei wechselhaft ist das Licht. In den Rundungen des glänzenden Metalldrahts fängt es sich in vielfachen Reflexen und trägt zum übersinnlichen Eindruck der Skulpturen erheblich bei. Wenn Luise Unger den Draht zusätzlich mittels eines Bunsenbrenners flämmt wie bei den Arbeiten „Hubba“ und „Kontinuum“, so dass das silberfarbene Edelstahl eine irisierende Vielfarbigkeit annimmt, wird diese Tendenz noch verstärkt. Die Formen erscheinen noch leichter und bewegter. Sie sind einer Fasslichkeit oder Begreifbarkeit noch weiter entzogen, wirken verletzlicher, aber auch unberührbarer und kostbarer. Je nach Lichteinfall steigert sich dieser Eindruck bis zu einer schillernden Körperlosigkeit, die an Seifenblasen erinnert.
Bei aller Zartheit verkörpern diese Skulpturen die Energie und den Kreislauf einer pantheistischen Welt, die sich nur in Ausschnitten erfassen und begreifen lässt. Trotz ihrer Transparenz ist es oft kaum möglich, bis in den innersten Kern vorzudringen. Sie haben etwas Unkontrollierbares, verändern ihre Gestalt bei jedem Luftzug und aus jeder neuen Perspektive. Daraus entwickeln sie ihr Eigenleben. Sie erscheinen gleichzeitig dinghaft und beseelt. Aus der Personalunion der Künstlerin Luise Unger mit der Künstlerin Natur entwickeln sie ihren autonomen Charakter.
Bei den Papierarbeiten wird der Eindruck des aus sich selbst heraus Entstandenen ebenfalls forciert. Bei einigen Arbeiten lässt Unger ein oder zwei Tuschetropfen auf das Blatt fallen und durch das Bewegen des Papiers seine eigenen Bahnen beschreiben. An anderer Stelle wiederum erinnern Strukturen und Schraffuren an halbautomatische Zeichnungen. Die graphische Strenge des Schwarzweiß´ wird auch hier durch unterschiedliche Formen des Wucherns und Wachsens abgemildert, die in einer spannungsvollen Wechselbeziehung zueinanderstehen. Offene und geschlossene Formen durchdringen sich in einem sich gegenseitig stabilisierenden Verhältnis. Luise Ungers Arbeiten handeln von Übergängen zwischen verschiedenen Seinszuständen. Wie silbern schimmernde Schemen schweben sie in sich versunken im Raum. Ihre rein graphische Struktur tritt mal mehr, mal weniger in den Vordergrund, oder legt sich als Schatten auf die Wand. Bei starkem Lichteinfall wird sie vom plastischen Volumen der Gesamtform derart überstrahlt, dass ihre Materialität aufgehoben erscheint.
Sabine Elsa Müller